Und wenn du denkst, es geht nicht mehr12/7/2020 Hinweis: Um die nachfolgenden Erläuterungen zur Strecke nachvollziehen zu können, empfiehlt sich nebst dem entsprechenden Kartenausschnitt auch das offizielle Streckenprofil.
38.1 km mit etwas über 2'900 Höhenmetern, dazu eine einmalige Landschaft im Raum Surselva / Oberalp. Das war der Stand im Januar, als ich mich mit dem Gedanken zu befassen begonnen hatte, am 1. Rheinquelle Trail in Sedrun teilzunehmen. Lange zögerte ich mit der Anmeldung, denn das Vorhaben war gelinde gesagt grenzwertig. Als Trailanfänger gleich einen solchen Lauf auswählen? Ob ich das schaffen kann? Um das herauszufinden, würde ich schon teilnehmen müssen. Als dann kurz nach den ersten Corona-Lockerungen der Lauf definitiv bestätigt, jedoch vorerst auf 300 Teilnehmende beschränkt wurde, meldete ich mich mutig an. Noch waren es ja mehr als zwei Monate bis zum Tag X. Einige Wochen nach der Anmeldung kam dann die Nachricht seitens des Veranstalters, man habe die Strecke nun geringfügig optimiert, um uns ein noch grösseres Trailvergnügen zu ermöglichen. Neu betrug die angekündigte Distanz 41.1 km mit rund 3'200 Höhenmetern. Worauf hatte ich mich da bloss eingelassen ... Es folgten praktisch wochenendweise kleinere Trailtrainings mit zwar moderaten, aber immerhin wichtigen Höhenmetern. Neues Material wurde getestet und sogar bis wenige Tage vor Abreise noch ersetzt. Gleichzeitig versuchte ich abzuschätzen, ob die geltenden Cut-Zeiten realistisch waren. 4:00 h bei KM 15.8; 6:00 h bei KM 21.7 und 8:00 h bei KM 30. Für die gesamte Strecke hatte man 10 Stunden Zeit. Das würde locker reichen, dachte ich und stellte sogar erste Zeithochrechnungen an, bei denen ich bergauf jeweils 16 Minuten pro Kilometer und bergab 10 Minuten pro Kilometer veranschlagte. Trailneuling eben – das würde mir später noch eins zu eins bewusst werden ... Jedenfalls sass ich am Freitag auf einmal im Zug Richtung Arth-Goldau und realisierte, dass der Tag X nicht mehr bequem weit weg war, sondern neu als „Morgen“ bezeichnet werden musste. Für die Hinfahrt wählte ich bewusst den beschwerlicheren Weg über die Zentralschweiz mit fünfmal Umsteigen. Dafür konnte ich über den Oberalp-Pass nach Sedrun gelangen und so vor Ort einen ersten Blick auf einen Teil der Strecke ergattern. Die Dimensionen, die sich mir vor dem Zugfenster auftaten, waren beeindruckend, um nicht zu sagen Respekt einflössend. Das stellte alle Erwartungen in den Schatten und erwies sich als steiler und weitläufiger als angenommen. Aber was will man machen? Entschlossen ging ich zuerst im Hotel einchecken, wo ich ein erstes Mal auf Dominique (60) traf, mit dem ich mich fortan noch eingehender unterhalten würde. Das Hotel lag perfekt, direkt gegenüber der Sportanlage, wo die Startnummernausgabe und der Start- und Zielbereich eingerichtet waren. Streng nach COVID-Massnahmen wurde die Ausgabe mit einem Einbahnsystem geregelt und kurz darauf stand ich wieder draussen vor der Sporthalle und wartete auf das offizielle Briefing, welches auf LED-Wand übertragen wurde, damit auch hier alle genügend Abstand halten konnten. Wirklich viel Neues kam dabei nicht heraus, aber es war gut zu wissen, dass man auf dem aktuellen Stand der Dinge war. Zurück im Hotel ging es direkt zum Abendessen ins hauseigene Restaurant. Da traf ich erneut auf Dominique und erfuhr, dass er ein alter Trailhase war, der schon so manchen Berg hoch- und wieder hinuntergekraxelt ist und mitunter auch schon einige mehrtägige Trailtouren erlebt hat. „Weisst du“, sagte er, „Traillaufen ist ganz anders als flache Marathons. Da läufst du gemeinsam, unterstützt dich gegenseitig und erlebst den Lauf ganz anders“. Ok, dachte ich, bei Stadtmarathons liegt ein wesentlicher Teil der Faszination aber auch darin, gemeinsam mit anderen zu laufen, sich mit den nächsten paar Teilnehmenden um einen herum zu freuen und anschliessend bei der Zielverpflegung zu plaudern. Gerne hätte ich mich mit Dominique weiter darüber unterhalten. Da wir nicht zusammengehörten, wurden wir aber auch im Restaurant getrennt platziert – die nehmen das mit den Corona-Massnahmen eben richtig ernst im Bündnerland. Immerhin, gestern Morgen erlaubte man uns, gemeinsam an einem grossen Tisch zu frühstücken. Schnell kamen wir auch mit einem Paar vom Nebentisch ins Gespräch und schon waren wir mitten im Läuferfachsimpeln. Dass ich von uns allen der Rookie war, wurde schnell klar, denn auch die anderen hatten schon so manchen Traillauf erfolgreich ins Ziel gebracht und schauten dem Ganzen ziemlich gelassen entgegen. Was mich angeht, so hatte ich mir vorgenommen, einfach mal zu starten und fortlaufend abzuschätzen, ob und wie weit ich noch kommen würde. Den ersten Teil mit 1'200 HM Auf- und 1'000 HM Abstieg sollte quasi ein Einlaufen und sicherlich ohne grössere Probleme hinzukriegen sein. Trailneuling – ihr wisst schon. Im Startbereich traf ich auf meinen guten Laufkollegen Elio, der sich „nur“ für die Kurzstrecke über 16 km angemeldet hatte – den Abschnitt, den ich als Einlaufen bezeichnete. Allerdings sehe ich Elio an vielen Läufen am Start und danach nicht mehr, weil er immer derart schnell davonballert, dass er innert Minuten über alle Berge ist. Wenn sich einer von seinem Kaliber für die Kurzstrecke anmeldet, weil er vor der langen nach eigener Aussage zu viel Respekt hat, wie sollten dann erst meine Chancen stehen, da halbwegs heil durchzukommen? Egal, für eine Ummeldung war es jetzt eh zu spät und schliesslich wollte ich endlich einmal zum Tomasee gelangen, der als Quelle des Rheins bekannt ist. Aufgrund einer angekündigten Schlechtwetterfront erfolgte der Start eine halbe Stunde verspätet um 8:30 Uhr und die ersten Kilometer waren sehr gemütlich und friedlich. Langsam zog sich die Strecke auf einer breiten Forststrasse im Zickzack durch den Wald hoch. Es wurde rege geplaudert, wobei wir wohl alle versuchten, die Nervosität vor dem in den Griff zu kriegen, was noch vor uns liegen würde. Nach dem kurzen Waldstück und einem ersten Verpflegungsposten führte der Weg direkt den Bergrücken hinauf auf den Garvers dil Tgom, wobei sich dieser an sich sanfte Berg als durchaus heimtückisch erweisen sollte. Immer wieder sah man direkt zu einer Kuppe hoch, die den vermeintlichen Gipfel markierte. Doch immer wieder kam dahinter eine weitere Kuppe zum Vorschein. Dazwischen wurden sogar abschnittweise einige der zuvor mühsam gesammelten Höhenmeter wieder abwärts vernichtet, bevor es gegenüber erneut steil den Berg hinaufging. Mit viel mehr Anstrengung als erhofft kam ich oben auf dem Gipfel auf 2'489 m an, konnte aber wenigstens ohne Rast sogleich den Abstieg in Angriff nehmen. Dieser war viel kräftezehrender als gedacht und abschnittweise so steil, dass ich auch mit Hilfe der Stöcke noch Mühe hatte, sicher runterzukommen. Hinzu kamen die zahlreichen Teilnehmenden der Kurzstrecke, die zwar eine halbe Stunde nach uns gestartet waren, die tausend Höhenmeter aber in Nu wettgemacht und uns eingeholt hatten. Auf einmal kam Elio von hinten angebraust, rief mir locker zu und donnerte weiter Richtung Tal. Am Ende schaffte er es in der Gesamtwertung der Männer unter die ersten 15. Respekt! Etwas oberhalb der Talsohle kam die Verzweigung in Sicht, an der die Kurzstreckler rechts und die Langstreckler links abbiegen würden. Theoretisch hätte man hier auch als Langstreckenteilnehmer noch rechts abbiegen und direkt ins Ziel zurückkehren können. Man hätte dann eine offizielle Zeit gehabt, wäre aber ausser Konkurrenz gelistet worden. Da schon aufzugeben, kam gar nicht in Frage. Ich würde noch die rund drei Kilometer bis zur Verpflegungsstelle Tschamut anhängen und dort entscheiden. Der Aufstieg auf den Tgom und der technisch anspruchsvolle Abstieg waren alles andere als ein Einlaufen und meine Beine fühlten sich unten im Tal schon so schwer an, wie nach keinem der Trainingsläufe im Vorfeld. Unter diesen Umständen nochmals über tausend Höhenmeter am Stück aufzusteigen und dann erst in der Rennhälfte zu sein? Das schien in dem Moment unmöglich. In Tschamut legte ich eine ausgiebige Verpflegungspause ein und spielte ein erstes Mal ernsthaft mit dem Gedanken, auszusteigen. So würde ich nie und nimmer über die restlichen zwei Gipfel kommen. So wirklich durchziehen wollte ich das aber auch nicht und so beschloss ich, die ersten Höhenmeter im Aufstieg auf den Piz Cavradi zu versuchen. Ein Läufer, der mir entgegenkam und wirklich aufgeben musste, sagte mir noch, dass auf halbem Weg zum Gipfel eine Zufahrtsstrasse zum Stausee gequert werde. Da könnte ich notfalls aussteigen und zurück zur Oberalpstrasse gelangen. Also trottete ich weiter im Zickzack Richtung Strasse hoch. Dort oben hatte ich bereits wieder so viele Höhenmeter intus, dass der Gedanke daran, das alles wieder abzusteigen, nur um dann das Rennen aufzugeben, auch nicht wirklich gefallen konnte. Was danach folgte, waren die wohl mühsamsten und anstrengendsten Kilometer, die ich je in irgendeiner Form zurückgelegt habe. Nach der Strasse verlief die Strecke nicht mehr auf offiziellen Wegen, sondern auf einem ins dichte Bodengestrüpp gemähten Pfad weiter, der in der Direttissima den Rücken des Cavradi hochführte. Immer wieder musste ich Verschnaufpausen einlegen, die 16 Minuten pro Kilometer waren in weite Ferne gerückt und näherten sich den 25 Minuten. Immerhin ging es anderen auch so und hie und da sassen Läufer neben dem Pfad, um sich kurz auszuruhen. Einzelne verfluchten dabei die Streckenführung lautstark. Inzwischen hatte sich eine Art Leidensgemeinschaft zwischen mir und Wolfgang ergeben, dem ins Gesicht geschrieben war, dass ihm diese Plackerei noch weniger Spass machte als mir. Wolfgang ist knapp zwanzig Jahre älter als ich und war mit einem Cap mit der Aufschrift „Zermatt Marathon“ unterwegs, welches er wohl kaum übers Internet bestellt hatte. Der Mann hatte also Erfahrung und es war gewissermassen beruhigend zu sehen, dass es auch diesen Läufern teilweise nicht besser ging als mir. Irgendwann sah ich den Gipfel des Cavradi dann vor mir. Oder etwa doch nicht? Dahinter kam ein noch viel, viel höherer Gipfel zum Vorschein. An sich nichts Ungewöhnliches in den Alpen. Blöd nur, dass dort oben so viele Menschen standen, dass man annehmen musste, sie gehörten zum Lauf ... Es half alles nichts. Weiterkraxeln war angesagt. Von nun an nicht mehr durchs Gestrüpp, sondern hochalpin über Felsen und Steine. Zwar anders mühsam, aber eben immer noch mühsam. Ich kam nur noch schrittweise vorwärts, musste noch öfter Verschnaufpausen einlegen als vorher und konnte mir nicht vorstellen, über diesen Gipfel zu kommen – geschweige denn ins Ziel. Hätte ich in Tschamut schon gewusst, was mich erwartet, ich wäre ausgestiegen und hätte es bleiben lassen. So aber war ich mittendrin in dieser Steinwüste und konnte nur noch aufwärts weiter, da abwärts noch mühsamer gewesen wäre. Gleichzeitig stand fest, dass ich bei der Maighelshütte auf der anderen Seite des Cavradi definitiv aussteigen würde. Dort hätte ich schliesslich erst die Hälfte der Strecke hinter mir. Ein Ding der Unmöglichkeit, die zweite Hälfte ohne völligen Zusammenbruch zu überstehen. Aber darüber konnte ich mir ja dann Gedanken machen, wenn ich bei der Hütte ankommen würde. Erstmal musste ich es überhaupt auf den Gipfel dieses verfluchten Cavradi schaffen. Nach einer Weile kamen Wolfgang und ich an einem Bergretter vorbei, der dort hoch oben die Stellung hielt und notfalls hätte alarmieren können, wenn einer gar nicht mehr vorwärts gekommen wäre. Im Bewusstsein darum, dass eine solche Evakuierung nur mithilfe der REGA möglich gewesen wäre, gab der junge Bergretter sein Bestes, es gar nicht erst soweit kommen zu lassen, wenn nicht unbedingt nötig. Und so kam er dann auch munter auf mich zu und erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden. Wohlbewas? Ich stand auf meine Stöcke gestützt am Wegrand und japste nach Luft. Er bat mich dann ganz lieb, doch bitte etwas vom Abgrund wegzukommen, damit ich nicht runterstürze, wenn mir schwindlig wird. Als nächstes bot er mir eine Reihe köstliche Nussschokolade an und damit hatte er seinen Job grandios erledigt. Schoggi geht immer, selbst irgendwo im felsigen Nirgendwo und ohne Plan, wie es weitergehen soll. Doch der Plan lag auf der Hand bzw. auf dem Weg. Aufwärts ging’s. Immer weiter, immer steiler, mit immer längeren Verschnaufpausen. Auf halbem Weg zum Gipfel kam dann noch ein bissiger Wind dazu, der mich dazu gezwungen hat, die Handschuhe aus dem Laufrucksack hervorzukramen. Bei dieser Gelegenheit konnte ich mich auch um die Sonnencrème kümmern, die aufgrund des bedeckten Himmels bis dahin noch nicht gross benötigt wurde. Wolfgang war noch erschöpfter, glitt sogar einmal aus und rutschte gefährlich ein paar Meter abwärts. Zum Glück ist ihm nichts passiert, aber seiner Moral war das auch nicht zuträglich. Oben auf dem Gipfel standen die Streckenposten der Zwischenzeitmessung und riefen uns aufmunternd zu: „Kommt, kommt, bald seid ihr oben!“ Bald? Klar, es lagen noch rund 20 Höhenmeter zwischen mir und dem Gipfel. Aber auch dafür brauchte ich noch zwei Verschnaufpausen. Dazwischen musste ich immer wieder laut gähnen, ich war einfach hundemüde und fertig. Endlich oben. Und nun? Würde ich auf der anderen Seite überhaupt wieder runterkommen und die rettende Maighelshütte erreichen? Klingt reichlich pathetisch, ich weiss. Aber ich wusste in diesem Moment echt nicht, wohin das Ganze noch führen sollte. Wenigstens gestaltete sich der Abstieg zur Maighelshütte erstaunlich angenehm. Die Beine trugen mich und ich konnte sogar ziemlich leichtfüssig absteigen. Unten dann die Verpflegung, diesmal sogar mit Bouillon, die mich wieder aufgepäppelt und zurück zu den Lebendigen gebracht hat. Für Wolfgang war’s das. Er beschloss, nichts mehr weiter zu riskieren und aufzugeben. Als ich ihn da so friedlich im Schatten auf dem Klappstuhl der Sanität sitzen sah, erinnerte ich mich daran, dass ich ja auch aufgeben wollte. Wollte ich das wirklich? Oder doch weiterlaufen? Einer der Sanitäter zeigte mir berufsbedingt sachlich nüchtern meine Optionen auf. Von der Hütte auf die Zufahrtsstrasse absteigen und dieser talauswärts zurück nach Tschamut folgen oder die Strasse überqueren und den Weg in Richtung Tomasee fortsetzen. Würde ich mich für die Fortsetzung entscheiden, gäbe es aber erst auf dem Oberalp und somit jenseits des letzten Gipfels wieder eine Ausstiegsmöglichkeit. Dazwischen lagen nochmals rund 500 m Auf- und 700 m Abstieg. Ganz der Bündner gab er mir zum Schluss noch einen wertvollen Rat mit auf den Weg: „Wenn du aussteigen willst, entscheide dich spätestens unten an der Strasse. Sonst musst du unnötig zurücklaufen.“ Danke, werde es mir zu Herzen nehmen. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon 6 Stunden unterwegs, die ehemals als sehr grosszügig bemessene Cut-Zeit von 8 Stunden auf dem Oberalp-Pass lag mir nun auf einmal drohend im Nacken. Ich erreichte die Strasse, zögerte einen Moment und setzte meinen Weg in Richtung Tomasee fort. Rund zweihundert Meter später meldeten sich Beine und Magen gleichzeitig und sagten mir, dass ich doch besser umkehren und aussteigen sollte. So lief ich entschlossen zurück zur Kreuzung. Unterwegs verabschiedete ich mich noch vom Holländer-Trio hinter mir und wünschte ihnen weiterhin viel Erfolg. Da stand ich dann. Mitten auf der Kreuzung. Die erlösende Strasse talauswärts vor mir, den beschwerlichen Weg Richtung Tomasee und Pazolastock hinter mir. Sollte ich echt solche Strapazen auf mich genommen und eben erst den verfluchten Cavradi bezwungen haben und nun doch aufgeben müssen? Das durfte nicht sein. Nein! Den letzten Anstieg mit nur noch 500 m würde ich irgendwie auch noch packen. Danach würde ich auf dem Oberalp endgültig die Segel streichen und mit der Bahn nach Sedrun zurückfahren. Also drehte ich erneut um und kehrte auf die Trailstrecke zurück. Und mein Mut wurde belohnt! Auf einmal ging es viel leichtfüssiger vorwärts, der Weg war auch nicht mehr so steil, sondern verlief immer wieder über einigermassen flache Stücke. Über eine idyllische Schlucht trottete ich entlang des noch sehr jungen Rheins aufwärts. Und da lag er vor mir. Der Tomasee. Der Ort, an dem der kleine Bergbach entspringt, der viele Kilometer später als breiter Strom durch Basel fliesst und schliesslich bei Rotterdam in die Nordsee mündet. Aus Filmdokus über den Rhein (bin halt unter anderem auch Geografielehrer, da schaut man sich sowas schon mal freiwillig an) und aus zahlreichen Fotos wusste ich, dass der Tomasee ein lohnendes Ausflugsziel ist. In Wirklichkeit ist er aber noch viel schöner. Wie ein Bijou liegt er eingebettet zwischen steilen Bergwänden auf beiden Seiten und sanften Wiesen an seinem Anfang da. Am Ende stürzt sich das kleine Bächlein, das später eine der wichtigsten Handelsrouten Europas wird, über die Felsen hinunter ins Tal. Es kam in der Folge zur ersten und einzigen technischen Pause – also ohne zwingend nach Luft schnappen zu müssen, sondern einzig aus dem Grund, den Fotoapparat aus dem Laufrucksack hervorzukramen und das obligate Erinnerungsselfie mit Tomasee im Hintergrund zu schiessen. Der Läufer vor mir tat es mir gleich, allerdings etwas zeitgemässer mit Smartphone. Auf einmal hörten wir wiederholt Geräusche vom Wegrand. Erst dann entdeckten wir die auf dem Stativ aufgepflanzte Kamera der Fotoservice-Firma, die dort die ankommenden Teilnehmenden beim Überqueren des Rheins fotografierte. Da die Kamera vermutlich per Bewegungsmelder ausgelöst wurde, sorgte unser Gefuchtel und Posieren zwangsläufig für eine Reihe wohl reichlich komischer Schnappschüsse, über die sich die Mitarbeitenden beim Auswerten noch amüsieren dürften … Mal schauen, ob es eines dieser Bilder ins Teilnehmerangebot schafft. Vom Tomasee führte der Weg immer noch angenehm aufwärts zur Badushütte, wo die Hüttenwartin einen inoffiziellen Verpflegungsposten eingerichtet hatte und Tee reichte. Der tat sehr gut und auch der kurze Smalltalk war mir sehr willkommen, hatte ich doch nach dem Ausstieg von Wolfgang niemanden mehr um mich herum und zog ziemlich einsam über die Pfade. Welcher der umliegenden Gipfel denn der Pazolastock sei, wollte ich wissen. Die Hüttenwartin zeigte auf den kleinsten und sanftesten aller Gipfel und auf die Streckenposten, die dort oben gut zu sehen waren. Nun gut, das sah gar nicht so unmöglich aus und sollte besser machbar sein als erwartet. Unter dem Gipfel angekommen, erwies sich aber auch der als äusserst hartnäckig und verlangte mir erneut zahlreiche Pausen ab, bis ich oben war. Dort verkündete der Streckenposten milde lächelnd, dass es nun etwas geradeaus gehe, bevor nochmals ein kurzer Aufstieg kommt. Ein wie bitte? Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Auf dieser Strecke ist nie, aber auch wirklich nie der vermeintliche Gipfel der endgültige. Und so kraxelte ich über einen zwar exponierten Grat, der sich aber als weitaus weniger gefährlich entpuppte als beim Briefing angekündigt. Jenseits des Grates folgte der kurze Aufstieg, wobei die Definition von „kurz“ offenbar im Auge des Betrachters liegt. Für einen einheimischen Bergführer dürfte das etwa vergleichbar sein mit dem Weg von meiner Haustüre zum Briefkasten. Für mich Parterreschweizer mit zu diesem Zeitpunkt weit über zweitausend Höhenmetern in den Füssen fühlte es sich an wie der Aufstieg zum Everest. Wenigstens standen oben nicht nur Streckenposten, sondern auch ein Schild, welches den Punkt auch schriftlich als Gipfel markierte. Inzwischen war ich 7:45 h unterwegs. In 15 min. war 700 m tiefer auf dem Oberalp Kontrollschluss. Das war’s, aus. Ich war offiziell raus aus dem Rennen. Entsprechend noch vorsichtiger machte ich mich auf den Abstieg Richtung Oberalp-Pass. Zeit gab es keine mehr zu verlieren, die hatte ich trotz anfänglich gutem Start spätestens auf dem Cavradi vollends eingebüsst. Nun galt es, sicher und unfallfrei die steilen Serpentinen runterzukommen und es irgendwie auf den Oberalp zu schaffen. Dort müsste ich zum Glück nicht einmal selber aufgeben. Man würde mir mitteilen, dass ich die Cut-Zeit überschritten hätte und nicht mehr länger im Rennen wäre. Ich würde bei der Sanität eine Einwegmaske holen, mich in den erstbesten Wagen der Matterhorn-Gotthard-Bahn setzen und nach Sedrun zurückfahren. Es wird mein erstes DNF überhaupt sein. Ein Zacken würde mir deshalb aber nicht aus der Krone fallen. Das Ganze war von Anfang an ein mehr als unsicheres Unterfangen. Mehrmals überlegte ich, mich auf die Kurzstrecke umzumelden. Hätte ich das gemacht, hätte ich nie rausgefunden, ob ich es vielleicht nicht doch schaffen konnte. Am Ende musste ich es einfach probieren. Dass man bei einem solchen Lauf scheitern kann, davon wurde ich auf den bisherigen 27 km wiederholt Zeuge. So manch einer, der unterwegs aufgeben musste, war wesentlich erfahrener und besser trainiert als ich. Auf dem Oberalp würde ich alle drei Gipfel bezwungen, den Tomasee in seiner ganzen Länge genossen und nicht weniger als 30 km zurückgelegt haben. Zudem war ich schon zweimal kurz davor, aufzugeben. Die Sache nun soweit durchgezogen zu haben, erfüllte mich mit einer grossen Zufriedenheit und ja, durchaus auch mit Stolz. Als ich so vor mich hinsinnierte, kam endlich der Oberalp-Pass in Sicht. Meine Strapazen würden in wenigen Minuten ein Ende haben. Ich sah schon den Besenläufer, der mit eingestecktem Besen im Rucksack auf die Ankommenden wartete. Einige andere standen schon bei ihm. Das war’s dann. Er würde mich in wenigen Augenblicken von der Strecke nehmen. Nachdem wir zu fünft um ihn herumstanden, wünschte uns der Besenläufer auf einmal alles Gute für den Schlussabschnitt. Wie jetzt. Wir sind doch draussen, oder etwa nicht? Ja, ja, die Cut-Zeit sei längst überschritten, aber solange er noch dastehe, sei die Strecke noch offen. Wir sollten ruhig weiterlaufen, er würde hinter uns herlaufen und uns bis Sedrun begleiten. Etwas verdutzt und ungläubig machten wir uns auf den Weg Richtung Tschamut. Einen Moment lang trauerte ich dem gemütlichen Bähnli nach. Dann realisierte ich, dass ich das Ding entgegen aller Wahrscheinlichkeit und völlig entgegen des Rennverlaufs tatsächlich ins Ziel bringen würde. Gemeinsam mit den anderen lief es sich auch viel leichter und so zogen wir munter schnatternd ins Tal. In Tschamut, wo ich auf dem Hinweg zum ersten Mal aussteigen wollte, stärkte ich mich nochmals mit einer Bouillon, während Lars (43) aus unserer Gruppe seine Flasche füllte. Die anderen liefen schon weiter und so bildeten wir fortan ein Zweierteam für die restlichen paar Kilometer. Wenn zwei Läufer sich kennenlernen, dann haben sie in der Regel Gesprächsstoff genug. So war es auch bei uns. Wir hätten rein plaudertechnisch locker bis Chur weiterlaufen können. Unsere Körper waren aber anderer Meinung und so mussten wir abwechselnd immer wieder kurze Gehpausen einlegen. Musste einer abbremsen, zog der andere nach. So unterstützten wir uns bis zurück nach Sedrun. Etwa dreihundert Meter vor dem Ziel kamen uns zwei entgegen und sagten, wir hätten noch zehn Minuten Zeit. Das dürfte reichen. Im strammen Wanderschritt und bei jedem Schritt ächzend kämpften wir uns den letzten Anstieg zur Sportanlage hoch. Kurz, bevor wir ins Blickfeld des Zielbereichs rückten, bemühten wir uns ein letztes Mal um ein leichtes Traben, damit man uns wenigstens als Läufer erkennen konnte. Noch einmal um die Ecke und da lag er vor uns, der Zielbogen, der noch kurz vor dem Oberalp bereits endgültig abgeschrieben war. Gemeinsam schritten wir mit erhobenen Armen über die Ziellinie, wo uns der Rest der „Besengruppe“ schon erwartete. 10:07.13 – so das Resultat des härtesten und verrücktesten Rennens, das ich je erlebt habe. Wenige Minuten später kündigte der Speaker den endgültigen Zielschluss in fünf Minuten an. Noch waren fünf Läufer unterwegs. Einer davon gesellte sich zwischenzeitlich zu unserer Gruppe, musste dann aber wieder abreissen und sich zurückfallen lassen. Er wurde fortan vom Besenläufer begleitet. Würde es ihm noch reichen? Die Zeit lief unerbittlich und der Speaker zitierte erbarmungslos nochmals das Reglement, wonach es keine Ausnahmen geben würde. Noch 40 Sekunden und von unserem Kollegen fehlte noch immer jede Spur. Da auf einmal kam er um die Ecke geschossen und zog einen Schlusssprint an, der nach einem solchen Lauf mehr als bewundernswert war. Alle, die sich noch im Zielgelände aufhielten, feuerten ihn an und klatschten wie wild. Vier Sekunden vor Zielschluss überquerte Hubert-Bernd (53) als Letzter die Linie und löste einen Freudenjubel unter allen Anwesenden aus, der es locker mit einem Fussballspiel in der Regionalliga hätte aufnehmen können. Da wurde mir bewusst, was Dominique gestern beim Abendessen meinte, als er mir seine Faszination fürs Traillaufen schilderte. Recht hat er! Unter normalen Umständen wären wir uns wohl alle in den Armen gelegen. Coronabedingt beliessen wir es aber bei ein paar Fistbumps und anerkennenden Worten, bevor im Hotel endlich die erfrischende Dusche und ein leckeres Abendessen warteten. Heute Morgen hoffte ich vergeblich, beim Frühstück auf Dominique zu treffen, um mich bei ihm nach seinem Lauf zu erkundigen. Wenig später traf ich ihn dann aber beim Bahnhof und wir konnten sogar gemeinsam bis Zürich zurückfahren. Gerademal etwas über acht Stunden benötigte Dominique gestern. Es sei doch ein ungewöhnlich harter Traillauf gewesen, meinte er. Er, der schon Mehrtäger und was weiss ich nicht alles in den Bergen gelaufen ist. Als Anfänger den Rheinquelle Trail auf der Langstrecke zu finishen, sei schon eine Referenz, die Anerkennung finde. Das nehme ich gerne so entgegen und eine Fülle von Eindrücken mit auf den Heimweg.
1 Kommentar
Yves Deucher
2/8/2020 01:35:57
Lieber Lukas
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Andere Läufer führen Reflexionsgespräche mit ihrem Trainer - ich schreibe Blog-Beiträge zur mentalen Verarbeitung des Gelaufenen. Archiv
Dezember 2020
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